Angesichts der historisch niedrigen Zahl an Auszubildenden (Bildungsberichterstattung, 2022) könnte man meinen, junge Menschen haben die Berufsausbildung für sich abgeschrieben. Ausbildungsberufe werden immer unbeliebter und das Prinzip einer Ausbildung scheint nicht mehr in das Lebensbild der „Gen Z“ zu passen, die angeblich vor harter Arbeit und neuen Herausforderungen zurückschreckt. Gleichzeitig machen mehr Schüler:innen das Abitur als noch vor zwanzig Jahren und das Studium gewinnt als Alternative zur Ausbildung an Attraktivität. Auf den ersten Blick scheint die Lage klar: Die aktuelle Ausbildungskrise ist vor allem eine Beliebtheitskrise. Doch lässt sich dieser Rückschluss tatsächlich so einfach ziehen?

Der Mythos des Akademisierungswahns

Die pauschale Aussage, dass die Ausbildung für junge Menschen insgesamt unattraktiv geworden ist, stimmt zumindest nicht. Jedes Jahr beginnen in Deutschland nach wie vor mehr junge Menschen eine Ausbildung an als ein Studium. Im Jahr 2021 standen über 650.000 duale und schulische Ausbildungsanfänger:innen gut 470.000 Studienanfänger:innen gegenüber (Bildungsberichterstattung, 2022). Zwar ist die Zahl der Ausbildungsanfänger:innen insbesondere seit der Corona-Pandemie deutlich zurückgegangen, jedoch ist die Zahl der Studienanfänger:innen im gleichen Zeitraum ebenfalls gesunken. Auch wenn sich langfristig, über den Verlauf mehrerer Jahrzehnte betrachtet, einen gesellschaftlichen Trend zu mehr Studienabschlüssen gibt, ist dieser in den letzten zehn Jahren zum Halten gekommen. Der aktuelle Ausbildungsrückgang kann somit nicht mit einem anhaltenden Studienboom begründet werden.

Besonders bemerkenswert ist, dass die Ausbildung in einer Bildungsgruppe sogar an Beliebtheit gewachsen ist: bei jungen Menschen mit Abitur bzw. Fachabitur. Immer mehr von ihnen entscheiden sich für den beruflichen Bildungsweg. So hat inzwischen fast jede:r dritte Auszubildende das Abitur bzw. Fachabitur, während es vor 15 Jahren noch kanpp jede:r Fünfte war (Destatis, 2023a). Bei der Zahl der Abiturient:innen insgesamt verhält es sich ähnlich wie bei den Studierendenzahlen: Langfristig sind sie zwar gestiegen, aber in den letzten zehn Jahren haben sie sich stabilisiert (BMBF-Datenportal, 2023).

Kleinere Jahrgänge treffen auf große Lücken

Viel schwerer als die vermeintliche Konkurrenz durch die Akademisierung wiegt der Einfluss des demografischen Wandels. Die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten „Baby-Boomer Generation“ erreichen zurzeit das Renteneintrittsalter. Die nachrückenden Jahrgänge sind deutlich kleiner, sodass nicht alle freiwerdenden Stellen besetzt werden können (Destatis, 04.03.2024). Diese Entwicklung betrifft alle Bereiche, sowohl Berufsfelder, die eine Ausbildung als auch ein Studium voraussetzen. In einigen Bereichen ist dieser Effekt heute jedoch bereits stärker spürbar als in anderen. Das zeigt sich besonders bei der Betrachtung der Bewerber:innenzahlen auf Ausbildungsplätze: Auf der einen Seite gibt es Branchen, in denen es mehr Bewerber:innen als angebotene Ausbildungsplätze gibt. Das ist z. B. im Bereich Softwareentwicklung und im Gartenbau der Fall. Auf der anderen Seite gibt es Branchen, in denen die Zahl der Bewerber:innen so stark nachgelassen hat, dass sie jetzt unter einem Auszubildendenmangel leiden. Davon sind viele Handwerksberufe betroffen, z. B. in der Lebensmittelherstellung oder im Baugewerbe (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023).

Die Untersuchung verschiedener Ausbildungsbranchen zeigt eine weitere Auffälligkeit: Branchen, die bereits heute einen Auszubildendenmangel verzeichnen, weisen oft wenig attraktive Arbeitsbedingen auf, wie Nacht- oder Wochenendarbeit, niedriger Bezahlung oder körperlich anspruchsvolle Arbeit (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023). Auch wenn viele dieser Berufe für die Gesellschaft unverzichtbar sind, erscheint es nicht überraschend, dass die Nachfrage in Zeiten des demografischen Rückgangs hier zuerst abnimmt. Handwerksberufe stehen außerdem oft vor der Herausforderung, dass es sich bei den Unternehmen um relativ kleine Betriebe handelt (Destatis, 2023b). Diesen stehen entsprechend weniger Personal und Ressourcen zur Verfügung, um für ihre Ausbildungsplätze zu werben.

Blick über den Generationenrand

Neben den Ausbildungsberufen, müssen auch die jungen Menschen selbst differenziert betrachtet werden. Zu einfach ist der Schluss, dass der Nachwuchsmangel in der Ausbildung auf die Werte und Einstellungen der „Generation Z“ zurückzuführen ist. Es ist nicht nur unfair eine gesamte Generation anhand von Klischees über einen Kamm zu scheren, sondern auch faktisch falsch. In der aktuellen Jugendbefragung der Bertelsmann Stiftung gaben zwei Drittel der befragten Schüler:innen an, dass sie nach der Schule eine Ausbildung machen wollen oder dass die Ausbildung eine Option für sie ist (Barlovic, Ullrich & Wieland, 2023). Bei Hauptschüler:innen ist dieser Wert sogar noch höher. In dieser Gruppe stellt sich häufig jedoch eine ganz andere Frage, und zwar: Bekomme ich überhaupt einen Ausbildungsplatz? Denn obwohl es eine Rekordzahl an unbesetzten Ausbildungsplätzen gibt, gehen nach wie vor viele junge Menschen leer aus auf dem Ausbildungsmarkt (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023). Angesichts der beschriebenen demografischen Entwicklung ist es umso wichtiger, auch diesen jungen Menschen eine Chance auf einen Berufsabschluss zu geben. Denn nur, wenn wir heute so viele junge Menschen wie möglich ausbilden, können wir weitere Fachkräfteengpässe zukünftig eindämmen.

Statt sich hinter irreführenden Narrativen zu verstecken, sollten Politik und Wirtschaft dem Auszubildendenmangel mit systematischen Instrumenten begegnen. Für die Politik bedeutet dies, auch den jungen Menschen, denen es trotz Bewerbungsbemühungen nicht gelingt, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, eine verlässliche Perspektive auf Ausbildung zu bieten. Gleichzeitig kann und sollte stetig gemeinsam mit der Wirtschaft an der Verbesserung der Attraktivität der Ausbildung gearbeitet werden. Das kann z.B. bedeuten kleinere Betriebe stärker zu unterstützen, insbesondere, wenn sie Jugendliche mit Förderbedarfen ausbilden. Viele der vorhandenen Unterstützungsmaßnahmen sind vor allem bei kleinen Betrieben zu wenig bekannt (Eckelt et al., 2020). Das kann aber auch bedeuten, die Durchlässigkeit zur akademischen Bildung zu erhöhen und so Wechsel zwischen oder die Kombination beider Wege zu erleichtern.

 

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Zum Weiterlesen: Zehn Mythen rund um Ausbildung und Studium – Faktencheck nachschulische Bildung

 

Quellen:

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2022). Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld: wbv Media. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichteseit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf. (zuletzt abgerufen am 04.03.2024)

Barlovic, I., Ullrich, D. & Wieland, C. (2023): Ausbildungsperspektiven nach Corona. Eine repräsentative Befragung von Jugendlichen 2023. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. www.chance-ausbildung.de/jugendbefragung/corona2023

BMBF-Datenportal (2023): Tabelle 2.3.16: Schulabsolventinnen und Schulabsolventen sowie Schulabgängerinnen und Schulabgänger nach Art des Abschlusses in Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.3.16.html (zuletzt abgerufen am 20.10.2023)

Destatis (04.03.2024). Demografischer Wandel. https://www.destatis.de/DE/Im-Fokus/Fachkraefte/Demografie/_inhalt.html (zuletzt abgerufen am 04.03.2024)

Destatis (2023a): Tabelle 21211-0003: Auszubildende: Deutschland, Stichtag, Geschlecht, Schulabschluss. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?language=de&sequenz=statistikTabellen&selectionname=21211#abreadcrumb (zuletzt abgerufen am 20.09.2023)

Destatis (2023b). Anteile kleiner und mittlerer Unternehmen beim Handwerk 2021. https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Handwerk/Tabellen/kleine-mittlere-unternehmen-handwerk.html (zuletzt abgerufen am 04.03.2024)

Eckelt, M., Mohr, S., Gerhards, C., & Burkard, C. (2020). Rückgang der betrieblichen Ausbildungsbeteiligung: Gründe und Unterstützungsmaßnahmen mit Fokus auf Kleinstbetriebe. Bonn: Bundesinstitut für Berufliche Bildung und Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/rueckgang-der-betrieblichen-ausbildungsbeteiligung-all-1

Rückgang der betrieblichen Ausbildungsbeteiligung : Gründe und Unterstützungsmaßnahmen mit Fokus auf Kleinstbetriebe (bertelsmann-stiftung.de)

Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2023). Berichte: Arbeitsmarkt kompakt – Situation am Ausbildungsmarkt 2022/23. https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Fachstatistiken/Ausbildungsmarkt/Generische-Publikationen/AM-kompakt-Situation-Ausbildungsmarkt22-23.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (zuletzt aberufen am 04.03.2024)