Eine starke und florierende Mittelschicht ist die Basis einer soliden Wirtschaft und einer wohlhabenden Gesellschaft. Sie sorgt in einem Land nicht nur für ein höheres Maß an sozialem Vertrauen, sondern auch für bessere Bildungsergebnisse, weniger Kriminalität, eine gesündere Bevölkerung und eine höhere Lebenszufriedenheit. Doch wie steht es um die Mittelschicht in Deutschland? Wer gehört zu ihr und wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt? Schafft es die Soziale Marktwirtschaft, ihr Aufstiegsversprechen einzulösen, und welche Rolle spielt dabei eine gute Aus- und Weiterbildung?

In einer gemeinsamen Studie mit der OECD hat die Bertelsmann Stiftung die Mittelschicht in Deutschland umfassend analysiert [1,2]. Das Ergebnis: Der Zugang zur Mittelschicht hat sich deutlich verschlechtert, vor allem für junge Menschen mit fehlender Berufsausbildung. Allein in der Altersgruppe zwischen 20 und 34 Jahren gibt es derzeit in Deutschland 2,16 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss – mit steigender Tendenz [3]. Damit rückt in der Debatte um die Mittelschicht in Deutschland auch die Frage in den Vordergrund, was getan werden könnte, um eine weitere Zunahme der Zahl der Ungelernten zu verhindern oder – noch besser – um sie zu senken.

Was ist die Mittelschicht und wie hat sie sich entwickelt?

Gemäß einer einkommensbasierten Definition der Mittelschicht gehören all jene Personen zu ihr, die in Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen zwischen 75 und 200 Prozent des nationalen mittleren Einkommens leben. 2018 entsprach diese Spanne einem monatlichen verfügbaren Einkommen von 1.500 bis 4.000 Euro für eine alleinstehende Person und von 3.000 bis 8.000 Euro für ein Paar mit zwei Kindern. Die größten Berufsgruppen unter den Erwerbstätigen in der Mittelschicht waren 2018 die hochqualifizierten Techniker bzw. die gleichrangigen nichttechnischen Berufe, wie beispielsweise Pflege- und Verkaufsfachkräfte oder Buchhalter:innen, und die akademischen Berufe.

Während 1995 noch 70 Prozent der gesamten Bevölkerung zur mittleren Einkommensgruppe zählten, waren es 2018 nur noch 64 Prozent. Der Großteil dieses Rückgangs fand in den frühen 2000er Jahren statt, als sich die Einkommensunterschiede in Deutschland vergrößerten. Dabei schrumpfte die Mittelschicht vor allem am unteren Rand (75-100 Prozent des Medianeinkommens) und hat sich seither trotz zwischenzeitlich guter Wirtschaftslage nicht erholt. Für sie hat sich zudem das Abstiegsrisiko erhöht, während die Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen, gesunken sind.

Jüngere Menschen ohne Ausbildung sind besonders vom Rückgang der Mittelschicht betroffen

Eine gute Ausbildung und ein Studium werden für den Aufstieg in die Mittelschicht immer wichtiger. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die Chancen, Teil der mittleren Einkommensgruppe zu sein, insbesondere für niedrig qualifizierte junge Erwachsene stark gesunken. So ging der Anteil der 25- bis 35-Jährigen, die es ohne abgeschlossene Ausbildung oder Abitur in die Mittelschicht schaffen, von 67 auf 40 Prozent, d.h. um 27 Prozentpunkte, zurück. Für jene mit Abitur oder abgeschlossener Berufsausbildung sank der Anteil um 12 Prozentpunkte (von 73 auf 61 Prozent) und für jene mit Hochschulabschluss oder Meister lediglich um 5 Prozentpunkte (von 76 auf 71 Prozent). Zugleich ist für Personen mit niedrigem Bildungsniveau auch die Wahrscheinlichkeit, aus der Mittelschicht abzusteigen, gestiegen. Das Risiko, innerhalb von vier Jahren in die untere Einkommensschicht abzurutschen, ist für ungelernte Arbeitskräfte und für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur mit 16 und 22 Prozent etwa viermal so hoch wie für Fach- und Führungskräfte (4 Prozent) und für Personen mit Hochschulabschluss (6 Prozent).

Die Coronakrise verschärft die Ausbildungssituation

Die meisten jungen Menschen in Deutschland erleben einen reibungslosen Übergang von der Schule in den Beruf. Deutschland schneidet dabei im internationalen Vergleich bei den Arbeitsmarktergebnissen junger Menschen insgesamt gut ab. Dennoch hat etwa jede:r Siebte zwischen 25 und 34 Jahren in Deutschland keine abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur [4].

Junge Menschen, die eine Ausbildung anstreben, trifft die COVID-19-Krise besonders stark. Bis zum Beginn des Ausbildungsjahres im September 2020 sank die Zahl der von den Betrieben angebotenen Lehrstellen im Vergleich zum Vorjahr um 7,3 Prozent, die Zahl der Bewerber:innen um 7,6 Prozent. Auch die Daten bis Ende 2021 deuten darauf hin, dass sowohl die Zahl der Bewerbungen als auch die Zahl der angebotenen Stellen das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht haben [5]. Aus Unternehmensumfragen geht hervor, dass insbesondere kleine Unternehmen und Unternehmen in Sektoren, die von der Krise am stärksten betroffen waren, infolge von unsicheren Geschäftsaussichten und finanziellen Schwierigkeiten Ausbildungsstellen abbauen. Der Rückgang der Zahl der Bewerbungen für Ausbildungsstellen ist auch deshalb besorgniserregend, weil dies ein Anzeichen dafür sein könnte, dass viele junge Menschen ihre Bewerbungen im Zuge der Pandemie auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. So könnte dies in den kommenden Jahren zu einer wachsenden Zahl von Bewerber:innen führen, die sich vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemühen.

Österreich als Vorbild in Sachen Ausbildungsgarantie

Eine Möglichkeit, um sicherzustellen, dass jeder junge Mensch die Chance auf einen berufsbildenden Abschluss erhält und sich damit auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, Teil der Mittelschicht zu sein, ist eine Ausbildungsgarantie, wie sie in Österreich seit 2008 besteht.

In Österreich schafft eine Ausbildungsgarantie die rechtliche Grundlage dafür, dass jede:r ausbildungswillige Jugendliche bis 25 Jahre ein Angebot für eine Ausbildung erhält. Nur, wenn es trotz intensiver Vermittlungsbemühungen nicht gelingt, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu finden, wird die Ausbildung zunächst bei einem Träger durchgeführt – aber immer mit einem festen Kooperationsbetrieb oder zumindest mit betrieblichen Praxisphasen. Ein Übergang von der Ausbildung beim Träger – in Österreich überbetriebliche Ausbildung (ÜBA) genannt – in betriebliche Ausbildung wird kontinuierlich angestrebt und unterstützt. Nur wenn dieser Übergang nicht gelingt, wird die Ausbildung bei dem Träger auch zu Ende geführt. Dabei ist der Abschluss dem der betrieblichen Ausbildung gleichgestellt.

Die durchschnittlichen Kosten der Ausbildungsgarantie in Österreich belaufen sich auf 13.225 Euro pro Person und Jahr [6]. Von diesen Kosten werden 90 Prozent vom österreichischen Arbeitsmarktservice aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung getragen, während der Rest von den Bundesländern übernommen wird.

Die Teilnahmequoten sind seit Einführung des Systems von 5,6 Prozent in 2009 auf 7,7 Prozent in 2018 gestiegen [7]. Fast drei von vier Auszubildenden (72 Prozent) schlossen ihre Lehre ab, verglichen mit 86 Prozent der Jugendlichen in einer regulären Berufsausbildung. Von der Absolvent:innenkohorte im Jahr 2018 war mehr als die Hälfte (56 Prozent) drei Monate nach dem Abschluss in einem Beschäftigungsverhältnis. Bei den ehemaligen Teilnehmenden überstieg zudem das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen der Absolvent:innen das der Nicht-Absolvent:innen um fast 50 Prozent [6]. Das sind beachtliche Ergebnisse, wenn man bedenkt, dass es sich hier tendenziell um leistungsschwächere Jugendliche handelt, die ohne Ausbildungsgarantie überhaupt keine Ausbildung hätten absolvieren können. Simulationen deuten darauf hin, dass eine Ausbildungsgarantie auch in Deutschland das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften erheblich steigern könnte und der finanzielle Nutzen die Kosten bereits nach kurzer Zeit übersteigen würde [8].

Geplante Ausbildungsgarantie in Deutschland kann zur Stärkung der Mittelschicht beitragen

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist die Einführung einer Ausbildungsgarantie als explizites Ziel genannt. Bleibt zu hoffen, dass sie zeitnah und konsequent umgesetzt wird. Dies würde auch die Mittelschicht besonders von unten stabilisieren, der Wirtschaft helfen, die dringend benötigten Fachkräfte zur Verfügung zu stellen und jedem jungen Menschen die Chance auf einen beruflichen Einstieg und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Dabei ist die Ausbildungsgarantie ein Instrument von vielen, das die Politik zur Stärkung der Mitte auf dem Arbeitsmarkt heranziehen sollte. Welche weiteren Hebel genutzt werden könnten, um die Mittelschicht langfristig zu stärken, kann auch in unserer Zusammenfassung „Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ [2] nachgelesen werden.

 

[1] OECD (2021a). Is the German Middle Class Crumbling? Risks and Opportunities. OECD Publishing. (vollständige Studie, englische Fassung)

[2] Consiglio, V., Geppert, C., Königs, S., Levy, H., & Vindics, A. (2021). Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. (Highlightsbroschüre, deutsche Fassung)

[3] BMBF (2021). Berufsbildungsbericht 2021.

[4] OECD (2021b). Education at a Glance 2021: OECD Indicators. OECD Publishing.

[5] Schuß, E., Christ, A., Oeynhausen, S., Milde, B., Flemming, S., & Granath, R. (2021). Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2021. Bundesinstitut für Berufsbildung.

[6] Wieland,C. (2020). Die Ausbildungsgarantie in Österreich: Funktionsweise, Wirkungen, Institutionen, Bertelsmann Stiftung.

[7] Schlögl, P., Mayerl, M., Löffler, R., & Schmölz, A. (2020). Supra-company apprenticeship training in Austria: a synopsis of empirical findings on a possibly early phase of a new pillar within VET. Empirical Research in Vocational Education and Training 12(1), 1-17.

[8] Forstner, S., Molnárová, Z., & Steiner, M. (2021). Volkswirtschaftliche Effekte einer Ausbildungsgarantie: Simulation einer Übertragung der österreichischen Ausbildungsgarantie nach Deutschland. Bertelsmann Stiftung.

AUTOR:INNEN
Natascha Hainbach
Valentina Consiglio
Clemens Wieland
Manuela Barišić