Gastbeitrag von Dr. Marcus Eckelt und Jennifer Schauer
Die Corona-Pandemie hat zu einer Ausbildungsmarktkrise geführt. Das steht spätestens seit Beginn des Ausbildungsjahres 2020/21 im letzten September fest. Gegenüber dem Vorjahr kam es bei den Neuabschlüssen dualer Ausbildungsverträge zu einem Rückgang um 11 Prozent, was 57.552 Neuverträgen weniger entspricht. Damit liegt die Gesamtzahl von 467.484 registrierten Neuabschlüssen auf einem historischen Tiefpunkt (vgl. BIBB, Datenreport 2021, 38). Nun stellt sich die Frage, wie es in diesem Jahr weitergeht.
Warum der duale Ausbildungsmarkt besonders krisenanfällig ist
Dass es in Krisenzeiten zu Rückgängen auf dem Ausbildungsmarkt kommt, ist eigentlich nicht überraschend, denn das duale Ausbildungssystem ist von Krisen – und speziell von der Corona-Pandemie – aus mehreren Gründen stärker betroffen als andere Bildungsbereiche:
- Das Ausbildungsstellenangebot leidet in wirtschaftlich schlechten Zeiten, da Betriebe wegen Umsatzeinbußen, Planungsunsicherheit und anderen Gründen teilweise darauf verzichten, Ausbildungsstellen anzubieten. Vor allem die Ausbildungsbereitschaft kleiner Betriebe kann durch betriebswirtschaftliche Faktoren beeinflusst werden.
- Die Ausbildungsnachfrage leidet in wirtschaftlich schlechten Zeiten, da Jugendliche es im Zweifelsfall vorziehen, ihre schulischen Bildungsabschlüsse zu verbessern, um so einerseits aus subjektiver Sicht Zeit zu gewinnen und andererseits ihre Chancen im Wettbewerb um begehrte Stellen zu verbessern.
- Das In-Kontakt-Treten mit Betrieben ist eine zentrale Voraussetzung, um einen dualen Ausbildungsplatz zu bekommen. Üblicherweise müssen die Bewerber:innen den Kontakt anbahnen. Zentrale Clearing-Stellen gibt es nicht. Das macht den dualen Ausbildungsmarkt unübersichtlich und das Bewerbungsverfahren komplizierter als mögliche Alternativen wie beispielsweise die Einschreibung in einen Bildungsgang an einer beruflichen Schule zum Erwerb der Fachhochschulreife oder die Bewerbung im Schulberufssystem (Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufe), wo es deutlich weniger und entsprechend größere Ausbildungsstellenanbieter gibt. Die pandemiebedingten Einschränkungen haben diesen Effekt deutlich verstärkt.
- Die Unterstützung des Matchings auf dem dualen Ausbildungsmarkt – Matching meint das Zusammenfinden von ausbildungsinteressierten Jugendlichen und Betrieben, die Ausbildungsstellen anbieten – wird deshalb normalerweise durch Berufsorientierungsmaßnahmen wie Ausbildungsmessen, Praktika, Tage der offenen Tür usw. unterstützt. Solche Angebote leben größtenteils vom direkten Kontakt. Aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie mussten die meisten derartigen Angebote ausfallen bzw. ins Internet verlagert werden. Zudem hat die Corona-Pandemie den Schulunterricht der letzten beiden Schuljahre massiv beeinträchtigt. Die schulische Berufsorientierung und -vorbereitung konnte nicht wie in vorherigen Jahrgängen erfolgen. Insbesondere für viele Schüler:innen der Abschlussklassen der Haupt-, Real- und Gemeinschaftsschulen ist hier entscheidende Unterstützung weggebrochen.
Eine besondere Rolle in der Vermittlung von ausbildungsinteressierten Jugendlichen und betrieblichen Ausbildungsstellen spielt die Bundesagentur für Arbeit (BA). Hier können sich sowohl Jugendliche als „Ausbildungsplatz suchend“ als auch Betriebe mit ihren angebotenen Ausbildungsstellen registrieren lassen. Entsprechend weist die BA monatlich aus, wie hoch die registrierte Nachfrage und das Angebot auf dem Ausbildungsmarkt sind. Zwar bilden diese Daten nicht das vollständige Marktgeschehen ab, da die Registrierung sowohl für Jugendliche als auch für Betriebe freiwillig ist, gleichwohl ist diese Datenquelle der geeignetste Ansatzpunkt, um die kurzfristige Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt zu beurteilen. Der Berichtszeitraum der BA entspricht nicht dem Kalenderjahr, sondern beginnt im Oktober eines Jahres und endet im September des nächsten Jahres (d. h. mit dem Start des nächsten Ausbildungsjahres). [1] Die Entwicklung im vergangenen Beratungsjahr 2019/20 und im laufenden Beratungsjahr 2020/21 lässt sich im Vergleich mit der Vorkrisenentwicklung bewerten: Was ist Trend und was ist vermutlich direkt auf die Corona-Krise zurückzuführen?
Lage auf dem Ausbildungsmarkt während der Corona-Pandemie
Das Verhältnis von registrierten Bewerber:innen und Ausbildungsstellen hat sich im Zeitraum von 2008/09 und 2018/19 umgekehrt. Während das Angebot an Stellen kontinuierlich stieg, stagnierte die Anzahl der Bewerber:innen zunächst und ging in den zwei Jahren vor der Krise leicht zurück. In der Corona-Krise brachen dann sowohl die Ausbildungsangebote als auch die Zahl der registrierten Bewerber:innen ein, wobei sich das Angebot und die Zahl der Bewerber:innen kumuliert über die Monate auf nun niedrigerem Niveau ähnlich wie in den Vorjahren entwickeln (vgl. Abb. 1).
Wenn man nun auf die jährlich bis Ende September neugeschlossenen Ausbildungsverträge schaut, zeigt sich, dass diese von 2009 bis 2012 zunächst absanken, dann aber seit 2013 bis 2019 stabil zwischen 520.000 und 530.000 jährlichen Neuverträgen lagen. Der Einbruch 2020 widerspricht dem Trend und scheint zum größten Teil coronabedingt zu sein. Bei der Anzahl der tatsächlichen Neuverträge zeigt sich außerdem, dass sich diese stärker an der Anzahl der registrierten Bewerber:innen orientieren als an den angebotenen Ausbildungsstellen. In den elf Jahren von 2008 bis 2019 lag die Abweichung der Neuabschlüsse von den registrierten Bewerber:innen bei maximal -6,5 Prozent bzw. +2,5 Prozent (Differenz/registrierte Bewerber:innen im September).
Es zeigt sich zudem, dass die Registrierung von Bewerber:innen über die Monate im Beratungsjahr stabil verläuft. Bis Mai wurden in den Jahren 2008/09 bis 2018/19 durchschnittlich 84 Prozent (Schwankung: 82–85 Prozent) aller bis September registrierten ausbildungsinteressierten Personen erfasst. Daran hat sich auch im ersten Jahr der Corona-Pandemie nichts geändert. Im Mai 2020 lag der Wert bei 85 Prozent (vgl. Abb. 2).
Ausblick auf das kommende Ausbildungsjahr
Es bleiben nur noch wenige Monate bis zum Start des neuen Ausbildungsjahres. Was lässt sich aus den Zahlen der BA über die Situation im September 2021 annehmen? Sollte sich die beschriebene Entwicklung im ersten Corona-Jahr auch in diesem Jahr fortsetzen, dann müssen wir ausgehend von 366.722 im Mai 2021 bei der BA registrierten Bewerber:innen mit etwas über 430.000 Bewerber:innen im September rechnen. Sollte die Anzahl von Neuverträgen ebenfalls in diesem Bereich liegen, dann würde das einen weiteren deutlichen Rückgang gegenüber 2020 bedeuten und deutlich unter der Vorausschätzung des BIBB von Anfang des Jahres liegen, als von einer Stabilisierung der Neuabschlüsse auf dem Niveau von 2020 ausgegangen wurde (vgl. Datenreport 2021, S. 58).
Sollte unsere Befürchtung eintreten, dann würde die Anzahl der jährlichen Neuverträge im Vergleich zum Vorkrisenniveau um knapp 100.000 niedriger liegen. Diese Entwicklung muss im Interesse der Jugendlichen, die eine qualifizierte Ausbildung als Start und Grundlage für ihre berufliche Karriere benötigen, möglichst verhindert werden. 2020 haben die Bundesregierung und die Sozialpartner gemeinsam mit dem Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ vor allem auf die Bezuschussung von ausbildenden Betrieben gesetzt, um das Angebot zu stabilisieren. 2021 wird diese finanzielle Förderung von Ausbildungsbetrieben nochmals erhöht. Außerdem wurde ein „Sommer der Ausbildung“ ausgerufen. Durch unterschiedliche Aktivitäten sollen Betriebe, Jugendliche und deren Eltern motiviert werden, kurzfristig noch Ausbildungsverträge abzuschließen. Diese Aktivitäten zielen vor allem darauf, das vorhandene Angebot möglichst effektiv auszuschöpfen und den Mismatch zu reduzieren. Diesen Aktivitäten ist aller Erfolg zu wünschen und die aktuell positive Entwicklung der Pandemie weckt die Hoffnung, dass in diesem Jahr mehr erreicht werden kann als im vergangenen Jahr.
Es sieht nicht gut aus …
Trotzdem: Es wäre durchaus schon ein Erfolg, wenn die Zahl der Neuabschlüsse im Bereich des Vorjahres läge. Das Vorkrisenniveau von 2019 zu erreichen – geschweige denn zusätzlich den im letzten Jahr stattgefundenen Einbruch zu kompensieren – scheint aktuell bereits ausgeschlossen. Höchste Zeit also berufsbildungspolitisch zu planen, wie nach der Überwindung der Corona-Krise perspektivisch auch die Krise auf dem Ausbildungsmarkt überwunden werden kann. Das von der Bertelsmann Stiftung vertretene Konzept einer Ausbildungsgarantie nach österreichischem Vorbild kann dabei ein Baustein sein. Ein weiterer wichtiger Baustein muss die Erfassung der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz sein. Viele Jugendliche sind am Übergang von der Schule ins Ausbildungssystem (duale, vollzeitschulische Ausbildung und Übergangssystem) statistisch gewissermaßen verloren gegangen. Um ihnen möglichst bald passgenaue Angebote machen zu können, ist es dringend nötig, „die größenmäßig unbekannte ‚Stille Reserve‘ der Ausbildungsnachfrage“ (BA, Monatsbericht Mai 2021, S. 33) besser zu kennen. Das ist sicherlich eine wichtige Lektion, die wir über die Krise hinaus lernen können: Idealerweise sollte der Verbleib aller Jugendlichen im Bildungssystem bis zum Übergang in den Arbeitsmarkt bzw. zumindest bis zum 25. Lebensjahr datenschutzkonform nachverfolgt werden. Das würde die (berufs‑)bildungspolitischen Akteure deutlich besser in die Lage versetzen, wirklich allen Jugendlichen einen berufsqualifizierenden Abschluss zu ermöglichen.
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