Zwischen dem 17.03 und 29.04 riefen wir zu einer Blogparade auf, um die Anerkennung non-formaler und informeller Kompetenzen zu diskutieren. Dieses Thema ist uns vor dem Hintergrund von 6 Millionen deutschen formal Geringqualifizierten, 491.000 zuwandernden Fachkräften, die der deutsche Arbeitsmarkt bis 2050 jährlich brauchen wird (Fuchs, Kubis & Schneider, 2015) sowie ca. 1,2 Millionen Asylsuchenden, die momentan nach Deutschland kommen und wahrscheinlich mehrheitlich keine formale Anerkennung ihrer beruflichen Kompetenzen erreichen, besonders wichtig.

Der folgende Beitrag fasst die Meinungen von Bloggern aus Unternehmen, Berufsschulen und der Wissenschaft zusammen und liefert einen Ausblick in die Zukunft eines Kompetenz(an)erkennungs-Systems in Deutschland.

Die Dualität von Lernen und Lehren

Dirk Hütig, tagsüber Auszubildender bei der Bertelsmann SE & Co. KGaA und abends Fußballtrainer für die Warendorfer SU C1-Jugend, veranschaulicht in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen der Rolle des Lernenden und Lehrers. Während seiner Ausbildung durchlief er bereits verschiedene Bereiche. Angefangen in der Fuhrparkverwaltung, wechselte er in die Absatzdistribution und dann zur Bertelsmann Repräsentanz in Berlin. Schließlich landete er bei uns im Programm „Lernen fürs Leben“. „Hier bei Bertelsmann lerne ich täglich von meinen Ausbildern“, denn diese überlegen sich Aufgaben für ihn, die er sofort in die Praxis umsetzen kann. Als Fußballtrainer schlüpft er dann selbst in die Rolle des Lehrers. Dort plant er Trainingseinheiten, Gruppen- und Individualtaktiken und pflegt den sozialen Umgang der Mannschaft. Dirk Hütig stellt fest, dass es häufig Parallelen zwischen beiden Rollen gibt, denn es kommt zumeist auf „Selbständigkeit, Organisationsgeschick und Teamarbeit“ an und manchmal „kann mein Ausbilder auch etwas von mir lernen“.

Kompetenzanerkennung ist für ihn ein wichtiges Thema, denn als Trainer besitzt er seit 5 Jahren Erfahrung in der Leitung seiner Mannschaft und erprobte sich in unterschiedlichen pädagogischen Methoden. Sein Trainerschein zertifiziert diese Kompetenzen allerdings nicht. Auch sind die konkreten Inhalte seines Trainer-Lehrgangs auf diesem Zertifikat nicht vermerkt. Das ist innerhalb der Fußballvereinsgemeinschaft kein Problem, dann da kennt man die mit einem Trainerschein einhergehenden Kompetenzen. Doch außerhalb dieser Gemeinschaft besitzt Herr Hütig keine Möglichkeit, seine erworbenen Kompetenzen für einen Berufseinstieg nach seiner Ausbildung sichtbar zu machen.

Nicht nur formale Abschlüsse zählen, sondern die passenden Kompetenzen

Gabriele Fanta, Vorstand Personal und CPO bei McDonald’s Deutschland, erzählt uns in ihrem Beitrag „Mach Deinen Weg!“, dass es bei der Personaleinstellung in ihrem Unternehmen nicht mehr nur auf formale Abschlüsse ankommt, also „Qualifikationen, Zeugnisse, Nachweise oder den lückenlosen Lebenslauf“. Dafür zählen „Leistungsbereitschaft, Engagement, Teamfähigkeit – und im Restaurant natürlich [auch] die Serviceorientierung, die Freude an der Arbeit für den Gast“.

Auch Joachim Diercks, Geschäftsführer bei der CYQUEST GmbH, spricht in seinem Beitrag über den Personalauswahlprozess der Deutschen Bahn. Dort werden Bewerber auf Ausbildungsplätze oder das Duale Studium eingeladen, für die Vorauswahl an einem Online-Testverfahren teilzunehmen. Es geht dabei nicht nur um die Suche nach den Besten, sondern den „Bestpassenden“. Soziale und kognitive Kompetenzen nehmen gegenüber Schulnoten im Personalauswahlprozess der Deutschen Bahn einen höheren Stellenwert ein. Herr Diercks befürwortet diesen Umschwung, warnt jedoch, dass ein ausschließlicher Verlass auf Online-Testverfahren ebenfalls Nachteile bringt. Denn z.B. beurteilen Schulnoten den Kandidaten über einen längeren Zeitraum, wohingegen Online-Tests eher einen „Blitzlichtbefund“ darstellen. Daher sollten nach Herrn Dierck „auch die Schulnoten nicht gänzlich aus der Betrachtung genommen werden, weil sie ja nun mal auch einen gewissen Erklärungsbeitrag liefern“.

Die Beiträge von Gabriele Fanta und Joachim Diercks verdeutlichen uns anhand zwei Beispielen, dass in heutigen Personalauswahlverfahren bei Unternehmen formale Abschlüsse zwar zählen, aber zunehmend versucht wird, auf alternative Methoden zurückzugreifen. Bewerber haben so die Möglichkeit, ihre Kompetenzen unabhängig von ihren Zeugnissen in verschiedenen Verfahren zu zeigen.

Verfahren zur Feststellung von Kompetenzen

Falko Brenner, Diplom-Psychologe und Research-Analyst bei viasto, erklärt uns, wie ungenutzte Potenziale durch eignungsdiagnostische Verfahren messbar gemacht werden können. Wie Frau Fanta und Herr Diercks ist auch er der Meinung, dass ein Verlass auf formale Abschlüsse „nicht mehr zeitgemäß und darüber hinaus sogar volkswirtschaftliche schädlich“ ist. Er argumentiert, dass formale Qualifikationsanforderungen eine zu hohe „Hürde auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt für viele Bewerbergruppen“ sind. Heute vor allem für formal Geringqualifizerte, aber in Zukunft auch für viele Migranten. Hinzu kommt der vielmals beklagte Fachkräftemangel.

Eignungs- und Potenzialdiagnostik kann bei der Lösung dieser Problematik seiner Meinung nach einen Beitrag leisten. Der Vorteil dieser Verfahren (wie z.B. psychometrische Testverfahren, strukturierte Interviews oder zeitversetzte Videointerviews) ist es, dass sie ein vergleichbares Maß an Objektivität, Reliabilität (Genauigkeit) und Validität (Gültigkeit) besitzen. Außerdem können sie die Dreieinigkeit aus fachlichem Wissen, angewandten sozialen Fähigkeiten und Persönlichkeit veranschaulichen. Oft werden solche Verfahren mehrsprachig eingesetzt und sind somit interkulturell vergleichbar. Weiterbildungspotenziale können ebenfalls sichtbar gemacht werden, sodass „aussichtsreiche Kandidaten…später zu wertvollen Mitarbeitern entwickelt werden können“. Herr Brenner bemerkt zum Schluss seines Beitrags, dass aussagekräftige Potenzialanalyseverfahren wenig nutzen, wenn die Förderung vorhandener Potenziale fehlt: „Hier sind jedoch die gesellschaftlichen und politischen Akteure gefordert“. Zum Beispiel ist die Weiterbildungsquote von gering qualifizierten Arbeitnehmern nur halb so hoch wie die von höher qualifizierten Arbeitnehmern (Frick, Noack und Blinn, 2013). Der Rückgang um 41% der Förderung der öffentlichen Weiterbildungsfinanzierung ist dafür ein ausschlaggebender Faktor (Walter, 2015).

Sichtbarmachung von Kompetenzen für die berufliche Qualifikation

Wie wäre es, wenn ein Arbeitgeber neben Zeugnissen und Online-Testergebnissen auch Einsicht auf den informellen Lernprozess bzw. die non-formal und informell erworbenen Kompetenzen eines Bewerbers hätte?

Dieses Thema behandelt Matthias Rohs, Juniorprofessor an der TU Kaiserslautern, in seinem Beitrag. Seine Arbeit beruht darauf, das Lernen im Arbeitsprozess zu fördern und die Lernprozessbegleitung zu unterstützen. Zusammen mit seinem Team entwickelt er Kompetenzmatrizen für einzelne berufliche Handlungsfelder, die die Kompetenzen zur Ausübung von Ausbildungsberufen abbilden. Die Erfassung der Kompetenzen erfolgt dabei sowohl durch Selbst- als auch Fremdeinschätzung.

Kompetenzen sollten dann seiner Meinung nach in einem E-Portfolio sichtbar gemacht werden. „Jede/r müsste also ein Portfolio erhalten und gestalten, in dem alle persönlichen Kompetenzen dokumentiert sind“. Der Zugang zum E-Portfolio wird von jedem selbst verwaltet und kann ggf. teilweise oder vollständig mit Arbeitgebern geteilt werden. Wichtig sind dabei die Einhaltung von Qualitätsstandards und die Möglichkeit, unterschiedliche Kompetenzbeschreibungen einheitlich auf verschiedene Berufsgruppen zu transferieren.

Einblick in die Arbeitgeber-Befragung

Die von uns beauftragte Arbeitgeber-Befragung deckt sich mit der durch die BlogParade initiierte Diskussion. Bei 75% der befragten Personalverantwortlichen nimmt das informelle Lernen gegenüber dem Lernen in Form organisierter und abschlussorientierter Bildungsgänge einen höheren Stellenwert ein. Für die Auswahl und Einstellung neuer Mitarbeiter erweisen sich die fachlichen bzw. beruflichen Kompetenzen als wichtigstes Kriterium. Hochschul- und Ausbildungszeugnisse werden von denjenigen Betrieben als weniger nützlich eingestuft, in denen das informelle Lernen einen höheren Stellenwert hat. Für 98% der Befragten ermöglicht erst das Vorstellungsgespräch und für 96% die Arbeitsprobe informell erworbene Kompetenzen sichtbar zu machen. So verbleiben formale Abschlüsse zwangsläufig ein wichtiges Kriterium für die Vorauswahl unter den Bewerbern.

 FAZIT

Die Beiträge unserer BlogParade und der Einblick in die Arbeitgeberbefragung haben eines klar herausgestellt: Non-formal und informell erworbene Kompetenzen sind bei der Arbeit sehr wichtig und wir alle erwerben diese stetig im Alltag. Heute legen Unternehmen immer mehr Wert auf Kompetenzen, die noch nicht formal nachweisbar sind, und versuchen die Potenziale ihrer Bewerber durch verschiedenste Verfahren aufzudecken und zu entwickeln. So werden berufliche Anforderungen direkt mit den individuellen Bewerbereigenschaften abgeglichen.

Was wäre daher der Vorteil eines auf Bundesebene standardisiert und einheitlich anerkanntes System zur Feststellung und Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen? Zum einen ermöglicht ein solches System Arbeitgebern Bewerber mit den gewünschten Kompetenzprofilen schneller zu sichten. Zum anderen würde ein solches System ungenutzte Potenziale sichtbar machen und Möglichkeiten bieten, den informellen Lernprozess zu zertifizieren. Neben einer echten Chance für formal Geringqualifzierte und neu nach Deutschland eingereisten Migranten, können so z.B. auch zusätzliche Fachkräfte gewonnen werden. Denn viele Menschen ohne Berufs- oder Hochschulabschluss verfügen durchaus über reichhaltige berufliche Erfahrungen.

Am Ende entsteht sowohl ein individueller Gewinn als auch ein volkswirtschaftlicher Nutzen.

Im Juni werden wir diese Thematik mit einem Fakten- und Positionspapier zur Kompetenzerkennung und -anerkennung in Deutschland näher beleuchten.

Quellen:

Fuchs, J., Kubis, A., Schneider, L. (2015). Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Frick, F., Noack, M. & Blinn, M. (2013). Die Weiterbildungsverlierer – Weniger Weiterbildung für immer mehr atypisch Beschäftigte. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Walter, M. (2015). Weiterbildungsfinanzierung in Deutschland. Gütersloh:, Bertelsmann Stiftung.