Wenn ich Freunden oder Bekannten erzähle, dass ich im Projekt „Chance Ausbildung“ arbeite und mich mit dem Berufsbildungssystem in Deutschland beschäftige, kommen immer die gleichen Fragen bzw. Aussagen:
„Hat das Ausbildungssystem nicht einen total schlechten Ruf?“
„Ich höre ständig von Betrieben, die keine Azubis finden!“
„Die Jugendlichen gehen doch sowieso alle weiter zur Schule und studieren, oder?“
„Handwerker werden immer teurer…die finden ja auch keinen Nachwuchs!“
Eine ganze Menge an Halbwissen und (Vor-)urteilen, die verdeutlichen: die duale Ausbildung hat ein Imageproblem. Das ist nichts Neues, doch was ist an den nachgesagten Problemen dran und wie sieht die Lage auf dem deutschen Ausbildungsmarkt in Wirklichkeit aus? Der kürzlich veröffentlichte Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2019 (in vorläufiger Form) liefert Zahlen und Daten zum Ausbildungsgeschehen: ein gutes Mittel für einen Faktencheck.
Aussage 1: Immer weniger Jugendliche beginnen eine Ausbildung.
Das ist faktisch falsch. Anfang April hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Berufsbildungsbericht 2019 veröffentlicht und damit die aktuellsten Zahlen für das vergangene Ausbildungsjahr präsentiert. Hierbei wird deutlich: die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist in den letzten Jahren leicht gestiegen und liegt bei 531.400 Verträgen. Dazu beigetragen hat zum Beispiel die positive Entwicklung der betrieblichen Angebote.
Aussage 2: Die Akademisierung führt dazu, dass es inzwischen mehr Studierende als Auszubildende gibt.
Die Vermutung, dass es mehr Studienanfänger als Ausbildungsanfänger gibt, stimmt so nicht. Auch wenn die Zahl der Studienanfänger die Zahl der Anfänger der dualen Ausbildung (nach BBiG/HwO) im Jahr 2013 erstmalig überschritten hat, ist die Gesamtzahl der Ausbildungsanfänger mit über 700.000 immer noch deutlich größer als die der Studienanfänger. Wie in der Abbildung zu sehen ist, spielt hierbei auch die Einmündung von ausländischen Studierenden eine Rolle.
Quelle: BIBB Datenreport 2019 (vorläufig), S. 97.
Zwar erwerben immer mehr Jugendliche eine Hochschulzugangsberechtigung, das heißt aber nicht zwangsläufig, dass diese dann auch (sofort) die akademische Laufbahn wählen. Fast jeder Dritte Azubi hat Abitur gemacht oder seine Studienberechtigung auf anderem Weg erworben.[1] Ein rechnerischer Anteil von 53 % der Jugendlichen beginnt irgendwann im Laufe seines beruflichen Werdegangs eine duale Ausbildung.[2] Auch diese Zahl unterstreicht die besondere Bedeutung der Berufsausbildung in Deutschland.
Aussage 3: Die Betriebe finden keine passenden Azubis mehr.
Diese Aussage muss etwas differenzierter betrachtet werden. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage liegt aktuell bei knapp 97 % (erweiterte Angebots-Nachfrage-Relation) was bedeutet, dass 100 Ausbildungssuchenden 97 Ausbildungsangebote gegenüberstehen.[3] Doch das ist ein bundesweiter Durchschnittswert, der die regionalen Verhältnisse unberücksichtigt lässt. Während im Arbeitsagenturbezirk Passau beispielsweise die Angebots-Nachfrage-Relation bei fast 130 % liegt, stellt sich die Situation für Jugendliche im nordrhein-westfälischen Hagen mit fast 80 % äußerst schwierig dar.[4] Die Ursachen hierfür sind vielfältig. In einigen Gebieten gibt es zum Beispiel monostrukturelle Ausrichtungen des Ausbildungsangebots. Das meint, dass beispielsweise in den Küstenregionen vermehrt Ausbildungsplätze in der Tourismusbranche oder Gastronomie angeboten werden und der IT-Bereich dort eher weniger bis gar nicht vertreten ist.
Pauschal lässt sich also nicht sagen, das einzige Problem bestünde darin, dass Betriebe keine passenden Azubis mehr finden. Denn auch Jugendlichen gelingt es häufig nicht, einen passenden Ausbildungsplatz zu bekommen. Die Kombination von einem gestiegenen Anteil unbesetzter Ausbildungsplätze bei zugleich hohem Anteil erfolgloser Ausbildungsplatznachfrager wird meist als Passungsproblem bezeichnet. Das Matching von Jugendlichem und Betrieb passt nicht.
Die aktuellen Zahlen aus dem Berufsbildungsbericht sprechen eine deutliche Sprache: 2018 konnten 57.700 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden, zugleich fanden jedoch 78.600 Bewerber keinen Ausbildungsplatz. 24.500 blieben davon komplett unversorgt und 54.100 Jugendliche hatten trotz einer Alternative einen Ausbildungswunsch. Die Schere klafft also immer wieder auseinander.
Aussage 4: Keiner möchte mehr Handwerker oder Koch werden.
Dass Arbeiten in der Gastronomie oder im Handwerk auch körperlich anstrengend sein können, steht außer Frage. Abgesehen davon sind aber auch die Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen deutlich schlechter als in anderen. Laut DGB Ausbildungsreport 2018 werden insbesondere Berufe der Hotelbranche oder im Tischlerhandwerk von den befragten Jugendlichen am schlechtesten bewertet. Begründet wird dies meistens mit langen Arbeitszeiten und der eher geringen Bezahlung. Eine ausführliche Zusammenfassung des Reports ist hier zu finden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die generelle Branchenverteilung der Ausbildungsberufe. Im Jahr 2018 haben rund 58,3 % der Azubis im Bereich Industrie und Handel eine Ausbildung begonnen, 27,3 % im Handwerk, 2,7 % im öffentlichen Dienst, 2,5 % in der Landwirtschaft, 8,7 % in den freien Berufen und 0,4 % im Bereich Hauswirtschaft.[5]
Was man noch wissen sollte:
Aktuell gibt es in Deutschland so viele Ungelernte wie noch nie. Fast 15 % der 25- bis 34-Jährigen haben keinen Berufsabschluss.[6] Das heißt, dass es etwa 1,53 Millionen (!) junge Ungelernte gibt, die ein vielfach höheres Arbeitslosigkeitsrisiko gegenüber Menschen mit einem Berufsabschluss haben. Diese jungen Menschen dürfen nicht aus dem System fallen, sondern müssen aufgefangen und unterstützt werden!
Facts zum Mitnehmen für den nächsten Smalltalk:
- Die berufliche Bildung, insbesondere die duale Ausbildung, stellt nach wie vor einen wichtigen Faktor der deutschen Wirtschaft dar und genießt international einen exzellenten Ruf.
- Die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung beginnen, steigt anstatt zu sinken und die Gesamtanzahl an Auszubildenden in Deutschland ist immer noch größer als die der Studienanfänger.
- Ein großes Problem liegt momentan in der mangelnden „Passung“: Jugendliche und Betriebe finden nicht überall zusammen – regional und branchenspezifisch sind die Unterschiede hier sehr groß.
- Über 1,5 Millionen junge Menschen in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen haben schlechte berufliche Aussichten, weil ihnen ein Berufsabschluss fehlt. Das sind nicht nur individuelle Risiken, sondern auch Vergeudungen volkswirtschaftlicher Ressourcen. Die Politik sollte hier dringend handeln!
[1] BIBB Datenreport 2019 (vorläufig), S. 141.
[2] Ebd., S. 185.
[3] Ebd., S. 21.
[4] Ebd., S. 20.
[5] Ebd., S. 33.
[6] Ebd., S. 312.
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