Mit einer Gesamtarbeitslosenquote von 15,3 % und einer Jugendarbeitslosigkeit von 38 %[1], liegt die Erwerbslosigkeit in Spanien rund doppelt so hoch wie durchschnittlich in der Eurozone (7,7 % bzw. 17,3 %).
Hiervon sind vor allem bestimmte Branchen wie das Baugewerbe betroffen, das starken konjunkturellen Schwankungen unterliegt und in den letzten zwei Jahrzehnten zwei große Krisen erlebt hat. Mit dem Platzen der spanischen Immobilienblase im Jahr 2009 und der großen Wirtschaftskrise sank die Zahl der Beschäftigten im spanischen Bausektor von 2,6 Millionen im Jahr 2008 auf 1 Million im Jahr 2014[2].Dies bedeutete einen nie zuvor dagewesenen Verlust an Arbeitsplätzen, wie in folgender Graphik gezeigt.
Die Covid-19-Pandemie hat die Baubranche in eine zweite Krise gestürzt. Ein Teil der Beschäftigten, die langsam wieder in Arbeit kamen, ist aufgrund von Kurzarbeitsregelungen oder Entlassungen erneut in die Nichterwerbstätigkeit zurückgefallen. Die Arbeitslosigkeit in der Baubranche ist in der ersten Hälfte des Jahres 2020 um einen weiteren Punkt gestiegen[3]. Nach den beiden Krisen erwägen spanische Arbeitnehmer, sich nach Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Ländern wie Deutschland umzusehen. Dies könnte ihnen ermöglichen, ihre berufliche Laufbahn mit einem höheren Maß an Stabilität und Lebensqualität fortzusetzen.
Nach den Zahlen aus dem Jahr 2017[4] haben in der spanischen Baubranche 43,3 % der Beschäftigten lediglich die Pflichtschulzeit bis zum Ende der Sekundarstufe absolviert. Sie verfügen über keinen formalen beruflichen Abschluss, mit dem sie ihre Qualifikation nachweisen könnten. Dabei ist das Baugewerbe kein Einzelfall. Rund 48 % der spanischen Erwerbsbevölkerung verfügen über keine anerkannten Nachweise ihrer on-the-job erworbenen beruflichen Qualifikation. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht über entsprechende Kompetenzen verfügen. Die Kompetenzen wurden lediglich nicht offiziell bewertet und damit nachgewiesen. Es kann sich um Fachkräfte handeln, die ihre Arbeit gut beherrschen.
Dieses weit verbreitete Fehlen von Nachweisen über die vorhandenen beruflichen Kompetenzen hat auch damit zu tun, dass es in Spanien traditionell nicht so schwierig wie in anderen Ländern ist, unqualifiziert in den Arbeitsmarkt einzutreten und auf informellem Weg dort zu lernen. Wenn es jedoch zu einer großen Wirtschaftskrise kommt, sind Menschen ohne berufliche Qualifikationsnachweise benachteiligt. Trennen sich Unternehmen, die ihre Pforten schließen müssen, von Arbeitnehmer:innen ohne Berufsabschluss oder Nachweis der erworbenen Fähigkeiten, wird der Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt erschwert. Diese Realität schränkt die Mobilität der Arbeitnehmer:innen ein, hindert sie am Zugang zu besseren Arbeitsplätzen und untergräbt die Chancengleichheit.
MYSKILLS ist kein offizieller Qualifikationsnachweis und führt nicht zur Anerkennung eines Abschlusses. Für viele Arbeitgeber:innen jedoch kann das mit MYSKILLS generierte Testergebnis ausreichend sein, um aufgrund der ermittelten Fähigkeiten eine Entscheidung über die Eignung einer Bewerberin oder eines Bewerbers zu treffen.
Wir begrüßen die Initiative des Programms „Lernen fürs Leben“ der Bertelsmann Stiftung, zusammen mit anderen deutschen Partnern und dem spanischen Team von EURES ein Pilotprojekt in Madrid zu entwickeln, um die beruflichen Fähigkeiten von Bauarbeiter:innen zu ermitteln, die an neuen Karrieremöglichkeiten in Deutschland interessiert sind. Wir begrüßen dies aus zwei Gründen: Zunächst, weil damit Bauarbeiter:innen in Spanien ohne formale Qualifikation der Zugang zu Arbeitsplätzen in Deutschland erleichtert wird. Wir sind fest davon überzeugt, dass die zeitlich befristete oder dauerhafte berufliche Mobilität für jeden Menschen von Vorteil ist. Neue Erfahrungen und Kenntnisse können erworben werden, die das berufliche und persönliche Profil bereichern. Weiter halten wir dieses Pilotprojekt für wichtig, weil es die spanischen Stellen ermutigen könnte, MYSKILLS gründlich zu prüfen. Sie könnten die bereits vorhandene Erfahrung nutzen und ein ähnliches, auf die spanische Wirklichkeit zugeschnittenes System entwickeln. Die informell erworbenen beruflichen Kompetenzen möglichst vieler Menschen gehören anerkannt. Hintergründe zum spanischen Berufsbildungssystem und zur dortigen Anerkennung von Kompetenzen folgen in einem weiteren Gastbeitrag.
[1] Quelle: Nationales Amt für Statistik. https://www.ine.es/ Unemployment rates by different age groups, sex and Autonomous Community(4247) (ine.es)
[2] Quelle: Nationales Amt für Statistik, Arbeitslose nach Altersgruppe, Geschlecht und Wirtschaftszweig. https://www.ine.es/jaxiT3/Tabla.htm?t=3965&L=0
[3] Quelle: Nationales Amt für Statistik, Prozentuale Verteilung der Erwerbslosen nach Wirtschaftszweig, Geschlecht und Altersgruppe. https://www.ine.es/jaxiT3/Tabla.htm?t=3972&L=0
[4] Quelle: Beobachtungsstelle der Bauindustrie, Beschäftigung und Ausbildung in der Baubranche. https://www.observatoriodelaconstruccion.com/uploads/media/j6amZSkOBn.pdf
Weitere Veröffentlichungen aus der Reihe:
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