Berufs- vs. Hochschulbildung?

Im Jahr 2013 kam es zu einem einschneidenden Ereignis: Erstmalig gab es in Deutschland mehr Studienanfänger als neue Auszubildende in der dualen Berufsausbildung. Seitdem nimmt die Öffentlichkeit nicht mehr ein Nebeneinander, sondern einen Wettbewerb akademischer und beruflicher Bildungsgänge wahr. Die aktuelle Diskussion teilt sich dabei in zwei Lager: Auf der einen Seite stehen die Befürworter einer weiteren Öffnung der Hochschulen, um noch mehr Menschen den Zugang zu einer akademischen Bildung zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wird vor dem Akademisierungswahn gewarnt und eine Rückführung der Akademisierungsquote gefordert. Beide Positionen teilen meiner Meinung nach jedoch einen Mangel: Berufsbildung und Hochschule werden als getrennte Alternativen dargestellt. Keine der Seiten bemüht sich darum, den wachsenden Überschneidungsbereich bildungspolitisch zu gestalten.

Warum die Verzahnung von Berufs- und Hochschulbildung sinnvoll ist

Denn möglicherweise ist die Frage danach, ob die Regeln des Hochschulzugangs restriktiver gestaltet werden sollten (z.B. höhere NCs auf sämtliche Studienfächer) oder ob der Zugang zur Hochschule erleichtert werden sollte (z.B. durch Brückenkurse für beruflich Qualifizierte ohne Hochschulzugangsberechtigung) im Augenblick gar nicht die wichtigste. Dringender erscheint es, einen Bereich bildungspolitisch auszugestalten, der offenbar sowohl vonseiten junger Menschen als auch vonseiten vieler Betriebe mit den neuen Formen der Kombination von wissenschaftlichem und berufspraktischem Wissen als attraktiv betrachtet wird. Denn es entsteht ein wachsender Überschneidungsbereich: Hochschulen bieten stark beruflich orientierte Studiengänge an, während bei anspruchsvollen Ausbildungsberufen eine Verschiebung zu theoretisch-wissenschaftlichen Inhalten beobachtet werden kann. Viele junge Menschen wünschen sich einen höheren Bildungsabschluss, möchten aber nicht auf den Praxisbezug verzichten. Statt also die Berufs- und Hochschulbildung gegeneinander auszuspielen, sollte darüber nachgedacht werden, wie die berufliche Ausbildungspraxis im Betrieb mit der akademischen Ausbildung an der Hochschule sinnvoll verzahnt werden kann.

Was es bereits gibt und wo die Schwächen liegen

Das Interesse vieler junger Menschen, akademisches Wissen mit Erfahrungen in der Praxis zu verknüpfen, spiegelt sich z.B. darin wieder, dass der Anteil der Studienanfänger an Fachhochschulen, deren Studiengänge einen stärkeren Praxisbezug aufweisen, von 27 % im Jahr 1994 auf 38 % im Jahr 2012 angestiegen ist. Ein weiteres Indiz für die Attraktivität der Verbindung von akademischer und beruflicher Bildung ist der Boom dualer Studiengänge. Diese bieten im Vergleich zu anderen Studiengängen einen deutlich stärkeren Praxisbezug, und ihre Anzahl hat sich in den letzten 10 Jahren nahezu verdreifacht. Eine Schwäche liegt jedoch darin, dass das duale Studium bislang nur einer kleinen Gruppe von Menschen offen zu stehen scheint. Bei der Mehrzahl der Studienanfänger handelt es sich um leistungsstärkere, männliche Abiturienten mit deutscher Staatsangehörigkeit, in der Mehrheit jung (50 % < 21 Jahre, nur 12 % > 23 Jahre). Eine weitere Schwäche besteht in dem Wildwuchs an Regelungen und Bildungsformaten in diesem Überschneidungsbereich. So ist längst nicht alles dual, wo „dual“ draufsteht (mehr dazu in der Publikation meines Kollegen Lars Thies „Das Beste aus zwei Welten“).

Berufliche und akademische Bildung zusammendenken

Was wir brauchen, ist ein zukunftsfähiges, integriertes System nachschulischer Bildung. Ein System, dass wirklich allen jungen Menschen eine Vielzahl von Wegen eröffnet und ihnen die Möglichkeit bietet, eine erfahrungsbasierte Entscheidung für einen Bildungsgang zu treffen. Es gilt: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ zu kommen. Deshalb setzt sich die Initiative* „Chance Ausbildung – jeder wird gebraucht!“ in ihrem Positionspapier für die Entwicklung und Erprobung neuer Modelle der Verzahnung von Berufsausbildung und Studium ein.

Wie ein Modell der Verzahnung von beruflicher und akademischer Bildung aussehen könnte

Das im Positionspapier vorgestellte Modell einer „studienintegrierenden Ausbildung“ soll exemplarisch veranschaulichen, wie eine solche Verzahnung gestaltet werden könnte. Das Modell könnte dort eingesetzt werden, wo sich Ausbildungsberufe inhaltlich mit Bachelorstudiengängen überschneiden. Anders als das „ausbildungsintegrierende duale Studium“ steht der vorgeschlagene Bildungsgang nicht nur jungen Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung (HZB) offen, sondern gibt allen Interessierten die Möglichkeit, sowohl die duale Ausbildung als auch das Studium kennenzulernen.

studienintegr_Ausbildung

In einer zweijährigen „Grundstufe“ werden Ausbildungs- und Studieninhalte curricular verzahnt. In dieser Stufe absolvieren die Auszubildenden die wesentlichen Teile einer dualen Ausbildung, die zugleich durch fachbezogene Studieninhalte an der Hochschule ergänzt werden. Die Grundstufe wird mit einer Zwischenprüfung abgeschlossen. Im Anschluss daran können die Auszubildenden zwischen drei Optionen wählen, welchen Bildungsstrang sie fortführen möchten. Sie können…

  • (nur) die Berufsausbildung bis zum Ausbildungsabschluss fortsetzen.
  • die Ausbildung mit integriertem Studium fortsetzen und mit einem Ausbildungs- wie Bachelorabschluss abschließen.
  • allein das Studium bis zum Bachelorabschluss fortsetzen.

Unterstützung bei der Entscheidung erhalten die Auszubildenden durch ein Berufs- /Laufbahncoaching, das sie während der Grundstufe absolvieren.

Vorteil des Modells der studienintegrierenden Ausbildung für junge Menschen und Betriebe

Die „studienintegrierenden Ausbildung“ bietet eine hochwertige, mit akademischen Inhalten aufgewertete Form der Berufsbildung. Schulabgänger mit und ohne HZB sammeln in beiden Bildungsbereichen Erfahrungen und können sich darauf beruhend entscheiden, welchen Bildungsgang sie fortsetzen wollen. Betrieben bietet ein solches Modell die Möglichkeit, durch attraktive Ausbildungsangebote leistungsstarke Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden.

Soviel zu der Forderung der Initiative neue Modelle der Verzahnung von Berufsausbildung und Studium zu entwickeln und zu erproben. Über die weiteren Forderungen werde ich hier demnächst ebenfalls berichten.

*Die Initiative „Chance Ausbildung – jeder wird gebraucht!“, bestehend aus elf Ministerien aus acht Bundesländern und der Bundesagentur für Arbeit sowie der Bertelsmann Stiftung, setzt sich für eine stärkere Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung ein. Um diese zu verwirklichen, hat die Initiative gemeinsam das Positionspapier „Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung – Positionen beziehen“ veröffentlicht. Weitere Informationen und Publikationen zum Thema sind hier zu finden.

Beitragsreihe zu den Forderungen der Initiative „Chance Ausbildung“ zur Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung