Blogbeitrag von Dominik Giese und Gunvald Herdin.

Lernen in der Schule, der Hochschule oder in der Ausbildung wird formal zertifiziert. Diese Zertifikate helfen, unsere Kompetenzen sichtbar und somit verwertbar zu machen. Non-formales Lernen in der Weiterbildung oder informelles Lernen im Beruf, Alltag oder Hobby wird derzeit in Deutschland nicht formal anerkannt und zertifiziert. Dabei wissen wir, wie wichtig informelles Lernen für den beruflichen Erfolg ist. Eine Studie des Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) aus dem Jahr 2013 zeigt, dass nur 34 Prozent der Fertigkeiten und Kenntnisse, die man im Beruf benötigt, in der formalen Ausbildung erlernt werden (vgl. Hall, Siefer & Tiemann, 2013). Der verbleibende Lernprozess ist auf Berufserfahrung, Weiterbildung, das Lesen von Fachbüchern, den Austausch mit Experten, über das Internet oder den Besuch von Messen und Tagungen zurückzuführen. So werden durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt und die immer schneller werdenden Innovationszyklen technischer Entwicklungen berufliche Kompetenzen heute in allen Branchen verstärkt kontinuierlich, arbeitsbegleitend und selbstorganisiert erworben. 66 Prozent unserer Kompetenzen finden sich daher nicht in Zertifikaten der formalen (Aus-)Bildung wieder, sondern werden kontinuierlich, informell und berufsbegleitend erworben.

Gemeinsam mit dem BIBB haben wir eine Befragung von Berufsbildungsexperten durchgeführt, um herauszufinden, wie man in Deutschland zum Thema der Anerkennung von informellem und non-formalem Lernen steht. In dem BIBB-Expertenmonitor sind verschiedene Experten der beruflichen Bildung vertreten, unter anderem aus Betrieben, Kammern, (Berufs-)Schulen, Forschungseinrichtungen und Arbeitnehmervertretungen.

Die Bedeutung eines Anerkennungssystems

Das übergreifende Ergebnis der Befragung ist einschlägig: Experten weisen dem Thema der Anerkennung informell und non-formal erworbener Kompetenzen eine hohe Bedeutung zu. Sie wünschen sich, dass die Anerkennung informellen Lernens einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft bekommt. So stimmen ca. drei Viertel der Befragten überein, dass in Deutschland informelles Lernen mehr gewürdigt werden muss. Dagegen glauben nur 3 Prozent, dass das informelle Lernen im Vergleich zum formalen Lernen – Lernen, welches im Prozess einer formalen Grundausbildung, Berufs- oder (Fach-)Hochschulausbildung bzw. in formalen Weiterbildungsmaßnahmen erlangt wird – in der Gesellschaft derzeitig als gleichwertig wahrgenommen wird.

Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass 70 Prozent der Experten sich für ein System zur Anerkennung informellen Lernens in Deutschland aussprechen. Diese Forderung wird vor allem durch Vertreter von Betrieben, Forschungseinrichtungen und Arbeitnehmerverbänden unterstützt.

Nicht (geringe) Risiken schüren, sondern große Chancen nutzen:

risiken und chancen
Quelle: Veltin & Herdin, 2016, eigene Darstellung

 

Eine Mehrheit der Experten hält die Risiken eines Anerkennungssystems für ungerechtfertigt. Nur 15 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen das formale Bildungssystem untergräbt. Demnach stimmt auch nur jeder fünfte Experte mit der Annahme überein, dass die reguläre Berufsausbildung infrage gestellt und die Glaubwürdigkeit von Berufsabschlüssen vermindert wird. Letztlich wird auch ein Nachfragerisiko der Beteiligung an Anerkennungsverfahren lediglich von 30 Prozent vermutet. Die größte Zurückhaltung kommt in dieser Hinsicht aus den Reihen der Vertreter von Kammern, Schulen und Arbeitgeberverbänden.

Dagegen überwiegen die Chancen deutlich. Drei Viertel der Experten betonen, dass die beruflichen Chancen des Einzelnen mit der Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen wachsen. Die Zustimmung dazu ist unter den Reihen der Betriebe, Arbeitnehmerverbände und der Forschungseinrichtungen noch höher. Insbesondere würden An- und Ungelernte von einem Anerkennungssystem profitieren.

Aber nicht nur der Einzelne profitiert nach Meinung der Experten: für 62 Prozent stellt die Anerkennung ein Mittel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels dar. Informelles Lernen wird bislang bei Stellenbesetzungen für 71 Prozent der Befragten zu wenig berücksichtig: wertvolle Kompetenzen und Potenziale bleiben somit derzeit unsichtbar und werden nicht genutzt. Daher glauben 63 Prozent der Experten, dass ein Anerkennungssystem den Unternehmen die Personalrekrutierung erleichtert.

Basierend auf der Experten-Umfrage zum Thema der Anerkennung informellen Lernens steht eines fest: um bislang ungenutzte Potenziale zu erschließen, benötigt man für Menschen, die über informelle Lernwege Kompetenzen erworben haben, verbesserte Möglichkeiten der formalen Anerkennung.

Die komplette Umfrage finden Sie hier.

Welche Ausgestaltungsmöglichkeiten die Experten für ein Anerkennungssystem sehen, werden wir in weiteren Beiträgen zu unserer Studie beleuchten.

Quellen:

Hall, A., Siefer, A. & Tiemann, M. (2013). BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012 – Arbeit und Beruf im Wandel.

Velten, S. & Herdin, G. (2016). Anerkennung informellen und non-formalen Lernens in Deutschland – Ergebnisse aus dem BIBB-Expertenmonitor Berufliche Bildung, BIBB, 2015.