Im Sommer besuchte ich in Hannover die Learnext 2018; eine Spezialmesse, bei der es um den Einsatz von Virtual und Augmented Reality in der Aus- und Weiterbildung geht. Ich wollte mir anschauen, welchen technischen Entwicklungsstand virtuelle Realitäten mittlerweile erreicht haben und inwiefern sie insbesondere für die berufliche Erstausbildung einsetzbar sind. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich halte das Potenzial für groß, den Weg zu dessen umfänglicher Entfaltung allerdings noch für recht weit.

Aber eins nach dem anderen. Was versteht man eigentlich unter Virtual und Augmented Reality (VR und AR)? VR sind computergenerierte, der Realität gleichende Umgebungen, in denen sich ein Mensch mit Hilfe einer speziellen Brille in Echtzeit bewegen kann. Das virtuelle Umfeld überdeckt dabei das gesamte reale Sichtfeld des Menschen. Besonders spannend ist diese Technik, seitdem es nicht mehr nur möglich ist, in eine virtuelle Welt einzutauchen, sondern auch mit dieser zu interagieren. Die Möglichkeit der direkten Interaktion mit einem Lerngegenstand ermöglicht gerade in der beruflichen Bildung vielfältige Anwendungen. Je nachdem, wie aufwändig die virtuelle Welt konstruiert ist, wird in VR der Eindruck vermittelt, sich tatsächlich in einer realen Umgebung zu befinden. Dieses Phänomen nennt man Immersion. Je stärker der Realitätseindruck, desto höher der Grad an Immersion. Augmented Reality bezeichnet hingegen die „Anreicherung“ der Realität durch virtuelle Elemente. Hier betrachtet man durch eine andere Art von Brille zwar die reale Welt, bekommt aber zusätzliche Informationen mit eingeblendet.

Und wo kommt da die berufliche Bildung ins Spiel? Nun, Digitalisierung ist ja auch in der beruflichen Bildung mittlerweile in aller Munde, und im Reigen der unter diesem Schlagwort zusammengefassten Ansätze stellen VR und AR besonders aufwändige – aber auch besonders interessante – Varianten dar:

  • Zum Beispiel kann ein Auszubildender mit Hilfe von VR aus einer riesigen, komplexen Druckmaschine Einzelteile oder Gruppen von Teilen entfernen oder in Bewegung setzen und ihre Funktionsweise aus allen Perspektiven plastisch betrachten. So kann er Erfahrungen und Eindrücke sammeln, die am echten Objekt unmöglich sind –entweder weil nicht alle Teile z. B. einer Druckmaschine einfach zugänglich sind, oder weil es für einen Betrieb zu hohe Kosten verursacht, wenn beispielsweise die Druckmaschine abgeschaltet würde, damit der Auszubildende sich die Funktionsweise genauer anschauen kann.
  • Mit AR können zum Beispiel einem Azubi im Bereich Sanitär/Heizung/Klima bei der Reparatur einer (tatsächlichen) Heizungsanlage Informationen darüber eingeblendet werden, welche Teile nicht sichtbar sind oder welche Funktionen sie jeweils haben. Das erleichtert das Verständnis und kommt jungen Menschen entgegen, die lieber am plastischen Objekt lernen als mit Buch und Bildschirm.

Hier in der Bertelsmann Stiftung verfolgen wir das Ziel, die berufliche Bildung leistungsfähiger und chancengerechter zu gestalten. Dabei bedeutet Leistungsfähigkeit, dass das System der beruflichen Bildung die Wirtschaft mit ausreichend vielen und mit arbeitsmarktnahen Qualifikationen versehenen Fachkräften ausstatten soll. Und Chancengerechtigkeit meint, möglichst jedem Jugendlichen – unabhängig von Herkunft, schulischer Leistung und Geschlecht – die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu geben. Angenommen, VR/AR-Anwendungen wären eines Tages in großem Variantenreichtum und zu deutlich geringeren Kosten als heute verfügbar – welche Konsequenzen hätte dies im Hinblick auf Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der beruflichen Bildung?

  • Berufsschulen würden technologisch anschlussfähiger, weil sie teure Maschinen für Unterrichtszwecke nicht kaufen müssten (was sie häufig nicht können), sondern simulieren könnten. Damit würden sie grundsätzlich als Lernort im dualen System aufgewertet und könnten stärker dazu beitragen, Ausbildungsinhalte nach neuestem technologischen Stand zu vermitteln.
  • Einige Berufe, zum Beispiel im Handwerk, könnten wieder attraktiver werden, weil der Einsatz von AR/VR in Ausbildung und Arbeitspraxis aus der Perspektive der Jugendlichen das Image der Berufe verbessert. Attraktivere Berufe führen zu mehr Ausbildungsnachfrage der Jugendlichen, ein Rückgang der gerade in einigen Handwerksberufen vielfach unbesetzten Stellen könnte die positive Folge sein.
  • Lernschwächere Jugendliche lernen häufig besser, je wirklichkeitsnäher das Lernmaterial gestaltet ist. AR/VR-Anwendungen könnten also auch dazu dienen, lernschwächere junge Menschen besser in Ausbildung zu integrieren.

Wie bei jeder Neuerung gibt es auch bei AR/VR nicht nur Chancen, sondern auch Risiken, und es gibt nicht nur Möglichkeiten der Anwendung, sondern auch Grenzen. Ein vorläufiges Fazit aus meiner Sicht:

  • Virtuelle Realität ist kein vollständiger Ersatz zur echten Realität. Aber sie kann auf diese echte Realität besser vorbereiten als andere Lernmedien und damit Lernprozesse beschleunigen sowie Fehler, Unfälle und Kosten – bspw. durch Maschinenschäden – reduzieren.
  • Die Anwendungen in der beruflichen Bildung beschränken sich noch auf Pilotprojekte mit geringen Nutzerzahlen. Erste Auswertungen deuten aber wohl darauf hin, dass die Akzeptanz bei Lehrenden und Lernenden durchaus hoch ist und motivierende Effekte entstehen.
  • Erste Erfahrungen zeigen zudem, dass der Einsatz von AR in der Ausbildung keineswegs den realen Ausbilder ersetzen, diesen aber zeitlich entlasten und dadurch Spielräume für individuelle Betreuung ermöglichen. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn gerade die berufliche Bildung ist mit zunehmender Heterogenität der Auszubildenden konfrontiert: Waren früher Haupt- und mittlere Schulabschlüsse die Regel, so sind heute in der beruflichen Bildung Abiturienten ebenso zu finden wie Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, Studienabbrecher und junge Menschen mit Fluchthintergrund oder mit Behinderungen.

Alles in allem: Es lohnt sich, diesen Technologien gerade in der beruflichen Bildung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Möglichkeiten sind vielfältig und es gilt, diese Vielfalt sinnvoll zum Einsatz zu bringen für ein chancengerechtes und leistungsfähiges System der beruflichen Bildung.