Papier ist geduldig

Schulzeugnisse, Diplome, Arbeitsnachweise – old school? Ja, man legt sie noch bei, wenn man ganz traditionell, real-existierendes Papier, per Post, an den potentiellen Arbeitgeber schickt. Oder man hängt sie in einer Mail an bzw. lädt sie hoch ins Bewerberportal eines Unternehmens. Damit ist man dann schon ein Stück moderner – zumindest die Form betreffend. Die Inhalte bleiben teilweise alt, denn manchmal hat ein Schul- oder Uni-Zeugnis schon einige Jahre auf dem Buckel und sagt nichts darüber aus, was den Menschen tatsächlich ausmacht oder was er im Beruf schaffen kann. Sie betreffen Zeiträume und Leistungen, die lange zurück liegen oder sie drücken in Worten aus, was jemand beruflich wahrscheinlich mitbringt. Es bleibt zu beweisen, ob der Mensch ins Arbeitsleben mitbringt, was die Unterlagen versprechen. Trotzdem, diese Zeugnisse gehören noch dazu. In die (virtuelle) Bewerbungsmappe kommen außerdem Arbeitszeugnisse und die Zertifikate der letzten drei, vier Weiterbildungen. Ob ich die vermittelten Inhalte je genutzt oder jetzt noch präsent habe, kann der Personaler nicht erkennen, der sie durchgeht. Und dennoch – rein damit. So funktioniert es immer noch. Die Unterlagen haben aber nur bedingt Aussagekraft über das, was ein Mensch wirklich kann. Wie können Personaler also herausfinden, welche Personen wirklich zum Unternehmen passen? Wie können sich Arbeitssuchende so präsentieren, dass deutlich wird, was sie wirklich ausmacht?

Der Fluss verlegt sein Bett

Es geht auch anders: XING, LinkedIn, Facebook – willkommen in den Welten der Bewerbung 2.0 und der digitalen Profile! Ganz neu sind diese Kanäle nicht, wenn man auf die beiden erstgenannten hauptsächlich beruflich orientierten Social Media-Plattformen schaut. Beide gibt es seit gut 10 Jahren. Es gibt aber auch andere, stärker Portfolio orientierte Ansätze wie sie z.B. „accredible.com“ und „degreed.com“ bereitstellen. Ein relativ neues Instrument ist auch der Online-Dienst „sumry.me“, wenn es darum geht einen neuen Job zu finden oder eben den passenden Mitarbeiter. Sogar ganze Teams können sich dort präsentieren. Der klassische Lebenslauf erscheint als Reise durchs Berufs-/Leben – aufgepeppt durch Fotos, Videos und Botschaften, von wohlmeinenden Menschen, die sehr persönlich beschreiben, was jemand kann oder wie er wahrgenommen wird.

„Nate is a joy to work with. Good at communicating and has an eye for interesting and relevant topics and angles.“, so Wesley J. Smith, New York Times, in Nate Hansons “sumry” (abgeleitet von “Summary”), Gründer des gleichnamigen Portals.

Das gute alte Empfehlungsschreiben wird abgelöst durch virtuelle Testimonials – Menschen, die im täglichen Arbeitsleben erfahren konnten, was man kann. Bei LinkedIn und XING geschieht es über „Kenntnisse“ oder „Top-Fähigkeiten“, die ich selbst angeben kann, die andere mir zuschreiben oder mir bestätigen – Freunde, Kollegen, Vorgesetzte. Wo bleibt da das gute alte Arbeitszeugnis? Manch ein Personaler mag noch davor zurückschrecken, solche Angaben als aussagekräftig zu werten. Andererseits, was weiß er über die Umstände, wie ich meinen Spitzen-Abschluss hingelegt habe? Was ist wirklich noch übrig oder wichtig, von den Berufserfahrungen, die die Bewerberin direkt nach dem Studium vor 10 Jahren gemacht hat? Die meist digitalen Ansätze haben gemeinsam, dass sie versuchen, den Menschen mit all seinen Kompetenzen darzustellen, nicht nur den Teil der Menschen, der durch Zeugnisse und Zertifikate beschrieben werden kann.

Auf dem neu verlaufenden Fluss schwimmen eher hochqualifizierte, mindestens webaffine Nutzer, die sich auf den verschiedenen Arbeitsmärkten ins Spiel bringen wollen. Dort treffen sie andere Nutzer und immer mehr Unternehmen, die neue Mitarbeiter finden wollen. Wie wichtig sind diese neuen Kanäle, wenn es darum geht, dass die richtigen Menschen zum Job kommen? Wie wichtig ist die „old school“? – oder: ab wann greift man im Bewerbungsprozess doch noch zu diesen traditionellen Mitteln des Kompetenznachweises?

Einige Unternehmen setzen bereits verstärkt auf digitale Formen der Bewerbung und messen traditionellen Zertifikaten teils wenig Wert bei: EY – eine international tätige Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft – führt im Logo den Untertitel „Building a better working world“ mit sich. Es scheint, dass sie diesen Untertitel auch auf ihr eigenes Unternehmen beziehen. Sie verzichten ganz aktuell auf Zeugnisse in den ersten Schritten der Bewerbung. Man muss einen Online-Test bestehen, damit man den Fuß in die „Stellenmarkttür“ bekommt. Neu ist, dass man keine bestimmte Mindestanforderung in Bezug auf Schul- oder Uni-Abschlüsse erfüllen muss. PWC – ein Konkurrenzunternehmen – geht einen ähnlichen Weg. Beide haben gemeinsam, dass sie es als Arbeitgeber zunehmend schwerer haben, die passenden Arbeitnehmer zu finden. Auch hier wieder: eher hochqualifizierte Arbeitnehmer. http://www.bbc.com/news/education-33759238

Und was macht das Heer der formal Geringqualifizierten?

Was macht beispielsweise die Wiedereinsteigerin, die zur Quereinsteigerin wird, weil es den vor der Babypause erlernten Beruf so gar nicht mehr gibt? Bei diesem „Klassiker“ des Erwerbsdaseins hat sie im ersten Berufsleben Kompetenzen erworben, die sie auch jetzt noch nutzen kann, aber eben nur Teile davon. Oder anders: immerhin Teile davon, auf die sie aufbauen kann – plus Kompetenzen, die sie als Mutter erworben hat und zusätzlich dadurch, dass sie in der Elternzeit auf „dawanda.de“ einen Online-Shop aufgebaut hat. Auch unbezahlte (Familien-)Arbeit bildet! Oder der Arbeitslose, der sinnvolle Beschäftigung im Ehrenamt gefunden hat und in der Jugendarbeit beim Fußballverein gelernt hat zu organisieren und zu koordinieren. Wie kann er bei der nächsten Bewerbung nachweisen, was er dort informell gelernt hat?

Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, dass seine Kompetenzen identifiziert, dokumentiert, und zertifiziert werden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt verwertbar und für Arbeitgeber nutzbar sind. Bei Hochqualifizierten spielt die virtuelle Welt beruflich eine wachsende Rolle. Für Geringqualifizierte oder Zuwanderer, also Menschen, denen formale Nachweise fehlen und beispielsweise Sprachbarrieren den Weg in den Arbeitsmarkt versperren, haben zu diesen Angeboten keinen oder nur schlechten Zugang. Hier sollte der Staat unterstützen. Eine einfachere Darstellbarkeit und Anerkennung von Kompetenzen trägt dazu bei, dass geringqualifizierte Arbeitnehmer sich weiterentwickeln können und Anschlüsse an den Arbeitsmarkt finden. Dadurch steigen auch die Chancen für weiteres, berufliches wie privates Lernen. Andere europäische Länder sind Deutschland ein Stück voraus und haben die Fahrrinne des Arbeitsmarktflusses schon ausgehoben. „Wenn aus Kompetenzen berufliche Chancen werden“, ist vielen geholfen. Auf diese Weise können alle Menschen in Deutschland besser zur Deckung des drohenden Fachkräftemangels beitragen bzw. neue Arbeitnehmer besonders für Engpassberufe mittel- und langfristig qualifiziert werden. Bei den ca. 7 Mio. formal Geringqualifizierten und den Zuwanderern, die jedes Jahr nach Deutschland kommen, sind die Potenziale besonders hoch.

Wo wir lernen, was wir können – ein Beitrag meiner Kollegen zu informell und non-formal erworbener Kompetenzen.

Broschüre “Wenn aus Kompetenzen berufliche Chancen werden – Wie europäische Nachbarn informelles und non-formales Lernen anerkennen und nutzen”