In Europa haben im Jahr 2015 1.3 Millionen Menschen Asyl beantragt. Ein großer Teil davon in Deutschland. Angesichts der kontinuierlich kritischen Lage in den Herkunftsländern müssen wir uns der großen Herausforderung stellen, die Geflüchteten in unsere Gesellschaften zu integrieren. Hierfür ist die Integration in den Arbeitsmarkt ein zentraler Stellhebel, wie Frau Nahles angesichts der Diskussion um das neue Integrationsgesetz verlauten ließ. Um diese schnell und effizient zu ermöglichen, ist neben dem Erwerb ausreichender Sprachkenntnisse die Erfassung und Anerkennung der bereits bei den Geflüchteten vorhandenen arbeitsmarktverwertbaren Kompetenzen erforderlich.

Dies hat auch die Europäische Kommission erkannt und baut daher gerade ein Repositorium für Kompetenzerfassungsansätze auf, wie ich unlängst auf der jährlichen Konferenz der European Association of Regional and Local Authorities for Lifelong Learning (EARLALL) in Brüssel erfuhr. Die „New Skills Agenda“ der Europäischen Kommission, die im Juni dieses Jahres vorgestellt werden soll, stellt ebenso stark auf die Erfassung, Entwicklung und formale Anerkennung von Kompetenzen ab, wie Dana Bachmann auf eben dieser Konferenz schon einmal vorab verlauten ließ.

Auch die Bertelsmann Stiftung beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit diesen Themen. Wie finden wir möglichst schnell heraus, was Flüchtlinge können? Unsere Kompetenzkarten sind eine Antwort auf diese Frage:

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Ich stellte sie auf der bereits genannten EARLALL-Konferenz, auf der Lifelong Learning Week 2015 der LLL-Platform in Brüssel sowie am vergangenen Donnerstag auf dem EUROGUIDANCE Cross-Borders Seminar in Potsdam als ein Beispiel guter Praxis vor:

http://de.slideshare.net/BertelsmannStiftung/empowering-migrants-and-refugees-a-competenceoriented-career-guidance-tool-as-the-first-step-of-a-validation-process?qid=8161fb53-dc4d-461a-9878-1aa294cc6e4f&v=&b=&from_search=1

Im Folgenden beschreibe ich das Instrument etwas genauer.

Zielgruppe, Inhalte und Methodik der Kompetenzkarten

Die 46 Kompetenzkarten bieten einen flexiblen, niederschwelligen Einstieg in das Thema der Kompetenzerfassung. Sie eignen sich besonders für Migranten und Menschen mit Fluchtgeschichte, können aber auch für weitere Zielgruppen eingesetzt werden. Sie bilden soziale, personale und zum Teil fachliche Kompetenzen ab. Die Karten arbeiten mit einfacher Sprache, einer Visualisierung der jeweiligen Kompetenz und fremdsprachlichen Übersetzungen. Zusammen mit den 11 Interessenkarten können sie für die Berufsorientierung ebenso eingesetzt werden wie für das Empowerment von Klienten. Besonders profitieren dabei Menschen mit Migrations- oder Trauma-Erfahrungen oder mit allgemein geringem Selbstwertgefühl.

Hintergrund der Entwicklung der Kompetenzkarten

Die Kompetenzkarten wurden über die letzten 3 Jahre gemeinsam mit Migrationsberatern und Kompetenzerfassungsexperten entwickelt, um den Bedarf der Migrationsberatungseinrichtungen nach einem leicht einsetzbaren und standardisierten Werkzeug für die Potenzialanalyse bei Klienten mit Migrationshintergrund zu decken. Die Karten sollten dabei außerdem den Übergang der Klienten von und zur Arbeitsverwaltung verbessern.

Dauer der Anwendung und Kosten der Kompetenzkarten

Die Dauer hängt vom Bedarf und der Erfahrung und den zeitlichen Möglichkeiten des Beraters ab. Eine kurze Analyse von einzelnen Kompetenzbereichen ist ab 15 Minuten möglich. Eine komplette Potenzialanalyse umfasst in der Regel 1-1,5 Stunden. Kosten entstehen weder für den Berater noch für den Klienten, da die Kompetenzkarten von der Bertelsmann Stiftung kostenfrei (Bestellformular) zur Verfügung gestellt werden.

Auswertung und Ergebnis der Kompetenzkarten

Im Verlauf des Beratungsgespräches werden beim Klienten die vorhandenen Kompetenzen anhand der Karten herausgearbeitet und grob in ihrer Ausprägung bewertet. Hierbei stellt der Berater die Plausibilität der Selbstbeurteilung über strukturierte Leitfragen fest. Am Ende des Prozesses werden die Kompetenzen in einer Dokumentationsvorlage festgehalten, die der Klient mitnehmen und seinem Arbeitsvermittler vorlegen kann

Validität der Kompetenzkarten

Die Validität der Selbsteinschätzung des Klienten wird im Gespräch mit dem Berater durch gezieltes Nachfragen nach konkreten Erfahrungen in der Anwendung der jeweiligen Kompetenz überprüft. Hierbei helfen die Hinweise auf der Rückseite der Kompetenzkarten. Eine Befragung von 60 Migrationsberatern ergab darüber hinaus, dass die Visualisierungen und erklärenden Beschreibungen fast durchweg richtig interpretiert wurden und dass die zusätzlichen Erklärungen, Fragen und Verweise sehr hilfreich für den Beratungsprozess seien.

Voraussetzungen für die Anwendung der Kompetenzkarten

Ein 10-minütiges Erklärvideo sowie die 2-seitige Gebrauchsanweisung bieten einen ausreichenden Einstieg für Bildungsberater, um mit den Karten arbeiten zu können. Mit zunehmender Erfahrung gelingt es besser, auch versteckte Kompetenzen zu identifizieren und die Selbsteinschätzung des Kompetenzniveaus mit den Ansprüchen des deutschen Arbeitsmarktes abzugleichen.

Anschlussfähigkeit der Kompetenzkarten an Arbeitsmarktintegration

Die Arbeitsverwaltung war im Prozess der Entwicklung der Karten eingebunden und so bilden 20 der 46 Kompetenzkarten Kompetenzen ab, die auch im Profiling der Job-Center und Arbeitsagenturen verwendet werden. Zur schnellen Identifikation sind diese mit einem roten Rahmen versehen. Die Karten stellen aber auch generell eine große Hilfe für die Unterstützung beim Erstellen von Bewerbungsschreiben und Lebensläufen dar, da sie die sowohl die personellen Stärken der Klienten als auch ihre zentralen Interessen und Hobbies der Kandidaten identifizieren und klar und prägnant beschreiben helfen.

Verbreitung der Kompetenzkarten

Deutschlandweit sind bisher mehr als 3.500 Exemplare im Einsatz. Hierbei wurden die Einrichtungen der Migrationsberatung für Erwachsene flächendeckend versorgt. Besonders in den Beratungskontexten, die sich mit der Vermittlung in Arbeit beschäftigen, wird verstärkt mit den Kompetenzkarten gearbeitet. Aber auch außerhalb des Migrationskontextes werden die Karten inzwischen verwendet, zum Beispiel bei Jugendämtern, in der Berufsberatung und bei Jugendlichen mit leichtem Handicap. Seit Anfang Mai sind die Karten auch in englischer Sprache verfügbar und Nachfragen für eine Übertragung ins Dänische, Norwegische und Niederländische werden gerade geprüft. Zur Resonanz auf Seiten der Arbeitsmarktakteure und Unternehmen liegen noch keine Erfahrungen vor, die Karten richten sich allerdings auch nicht direkt an diese Zielgruppen.

Nächste Schritte

Derzeit werden Adaptionen in weitere Sprachen geprüft. Darüber hinaus wird derzeit eruiert, in wieweit eine Ergänzung um eine Kategorie „Berufsfelder“ hilfreich wäre. Entsprechende Karten könnten die Erfassung bisheriger Berufstätigkeiten, die Berufsorientierung sowie die Identifikation von berufsrelevanten Kompetenzen unterstützen.

Mögliche Rolle in einem nationalen System der Kompetenzanerkennung

Der Einsatz der Kompetenzkarten kann Geflüchteten und Migranten helfen, den ersten Schritt zur Anerkennung ihrer Kompetenzen und somit zur Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zu gehen. Bei diesem ersten Schritt darf es allerdings nicht aufhören. Damit die Kompetenzen tatsächlich einen Wert auf dem Arbeitsmarkt erhalten, müssen sie gegen einen geltenden Standard gemessen werden und für Unternehmen und Individuen verständlich und glaubwürdig ausgewiesen werden. Die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen gilt es in Deutschland allerdings erst zu schaffen, wie unsere Studie zur Kompetenzanerkennung in Deutschland und Europa sowie der gemeinsam mit dem Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) erstellte Expertenmonitor gezeigt haben. Dazu gehört auch, dass Instrumente wie die Kompetenzkarten fest verankert werden in eine breit zugängliche und ausreichend ausgestattete (Weiterbildungs-)Beratungsinfrastruktur, die den Einstieg in ein Anerkennungsverfahren genauso leistet wie eine kontinuierliche Begleitung durch Bildungslotsen über den Prozess hinweg. Und das nicht nur für Migranten und Geflüchtete, sondern auch für inländische formal Geringqualifizierte und letztlich jeden von uns. Wichtig ist hierbei abschließend, dass die Kosten eines solchen Anerkennungsverfahrens keine unüberwindbare Hürde für die Teilnahme bieten dürfen. Hier ist die öffentliche Hand gefragt, sich gerade angesichts langfristig rückläufiger öffentlicher Investitionen in Weiterbildung wieder stärker zu engagieren.

Nur so können wir wirklich alle verborgenen Schätze heben und nicht nur mehr Teilhabegerechtigkeit schaffen, sondern auch die nötigen Fachkräfte für unser Land sichern. Ein Muss in Zeiten von Digitalisierung und demografischem Wandel.

Over and Out.

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